Auf den ersten Blick scheint sich George R. R. Martins High-Fantasy-Epos A Song of Ice and Fire nicht wirklich von den unzähligen anderen schwergewichtigen Fantasy-Reihen zu unterscheiden. Zunächst als Trilogie geplant, schreibt Martin inzwischen an Teil 6 (The Wind of Winter), insgesamt 8 werden es wohl mindestens werden. Die typische detailversessene Komplexität des Genres findet sich auch bei ihm wieder, über 1000 Charaktere werden in den Büchern namentlich genannt und treffen in dutzenden Handlungssträngen aufeinander. Auch inhaltlich orientiert sich Martin zweifellos prinzipiell an dem genreüblichen Inventar, das aus Hexen, Drachen und schwertschwingenden Königssöhnen besteht.
Der erste Teil erschien bereits 1996 und hatte in der dem Genre nachgesagten etwas hermetischen Fangemeinde großen Erfolg, aber erst durch die Verfilmung ab 2011 als Serie Game of Thrones wurde sie einem größeren Publikum bekannt und schnell zum Kulturphänomen. Inzwischen gilt sie vielen als die beste Serie aller Zeiten. Lobeshymnen auf die Bücher und die TV-Serie fangen in der Regel mit der Einschränkung an, dass der Rezensent eigentlich mit Riesen und Zauberern nichts anfangen könne, Tolkien nie gelesen und gesehen habe. Was ist also anders an Game of Thrones?
In der Spieltheorie gibt es ein Gedankenexperiment, im Prisoner’s Dilemma wird ein Gefangener (A) vor die Wahl gestellt, seinen Kumpanen, der in der Zelle nebenan sitzt, zu verraten und (als Kronzeuge) nicht bestraft zu werden oder aber dicht zu halten. Das Problem ist, dass wiederum A eine hohe Strafe zu erwarten hat, wenn der Kumpan auspackt. Kooperieren beide mit der Polizei, bekommen sie jeweils eine geringere Strafe. Wenn allerdings beide nichts sagen, kann ihnen die Polizei nichts nachweisen und sie sind frei.
Das Perfide am Prisoner’s Dilemma ist, dass es nur eine logische Verhaltensweise für A gibt: Den Verrat. Denn entweder hält der Kumpan dicht, dann wäre A frei, oder der Kumpan verpfeift ihn auch, dann hätte A zumindest eine geringere Strafe zu erwarten.
Wenn man sich jetzt eine Welt ausmalt, in der jeder die Lehre aus diesem Experiment verinnerlicht hat, dann ist man im Reich der Lanisters, Baratheons, Starks und Targaryens.
Der hinterhältige Verrat ist hier so tief verankert, dass einem angst und bange wird, wenn ein Charakter einem anderen auch nur den Rücken zudreht. Das Game of Thrones ist genau das, ein Ränkespiel um Macht. Jeder ist zu jeder Zeit, oft auch unfreiwillig, in Intrigen verstrickt. Wer nicht mitspielt, d. h. nicht die Bereitschaft zur völligen Neuorientierung zu jedem möglichen Zeitpunkt bar jeder moralischen Werte zeigt, bleibt auf der Strecke.
Nicht von ungefähr sind deshalb die klassischen Helden, die starr einem Ehrenkodex folgen und sich an unehrlichen Machenschaften nicht beteiligen, mit die Ersten, die dran glauben müssen. Erfolgreich sind diejenigen, die begreifen, dass die Treue zu jemandem oder der Glaube an etwas immer nur Teil der aktuellen Strategie ist, deren Ausrichtung jederzeit aufgegeben werden muss, wenn es das Spiel erforderlich macht.
Das heißt nicht, dass die Menschen in dieser Welt nichts Gutes täten, nur sie tun es aus rein persönlichen Motiven, aus Sympathie, Zuneigung, vielleicht auch Liebe, wobei das sexuelle Verlangen meist im Vordergrund steht. Aber gut, der Zwerg und die Hure, der Bastard und die Wilde, der dicke Feigling und die Inzesttochter, sie lieben sich um ihrer selbst willen. Freilich werden alle früher oder später von dem großen Spiel der Throne wieder eingeholt.
Die atemlose Unerbittlichkeit, mit der sich die Protagonisten ständig umorientieren müssen, macht auch vor dem Zuschauer nicht Halt. Martin schreckt nicht davor zurück, ganze Handlungsstränge abzuschlachten und die Sorge, ob es eigenen Lieblingsfiguren nicht auch bald an den Kragen gehen wird, erweist sich allzu oft als berechtigt.
Die Spannung, die dadurch erzeugt wird, ist echt. Man fiebert mit, weil absolut nichts sicher ist und schaut sich gebannt eine bluttriefende Folge nach der anderen an.
Allerdings haben diese konstanten Knalleffekte auf der anderen Seite auch ihren Preis: Die Geschichten, die erzählt werden, haben kein Ende im klassischen Sinne. Stattdessen ist einfach irgendwann Sense.
Um die Spannung immer am Maximum zu halten, enden Subplots grundsätzlich, bevor es psychologisch zu sehr in die Tiefe gehen müsste. Statt einer Lösung oder eines Abschlusses, wird das Schwert gezückt und alles ersäuft im Blut. Was danach noch steht, ordnet sich neu an. Die Karten werden neu gemischt und weiter gehts. Die Spieler, die noch mit am Tisch sitzen, finden sich auf einmal in völlig neuen Kontexten wieder und müssen das Beste draus machen.
Nach einiger Zeit versteht man deshalb auch, dass die integren Helden nicht nur deshalb als Erste ins Gras beißen, weil sie gut, treu, ehrenhaft und deshalb nicht überlebensfähig sind, sondern auch weil die Erzählstruktur keinen Platz für Figuren hat, die zu sehr die sind, die sie sind. Wenn sich das Rad weiterdreht und sich jeder Charakter in einer neuen Situation wiederfindet, wäre es viel zu schwierig, solche Charaktere in einer völlig neuen Umgebung zu entwickeln, also hilft nur Rübe ab. Die grausamen Bösewichte haben übrigens ein ähnliches Problem, auch sie sind zu unflexibel – ihr Todesurteil.
Je länger dieses Räuberschach aus schönen nackten Frauen und Köpfeabschlagen vor großartiger Naturkulisse voranschreitet, desto mehr werden die Machtspiele zum Selbstzweck. Die angestrebten Ziele verlieren an Bedeutung, weil man schon ahnt, dass sich demnächst wieder alles komplett ändern wird. Martin versteht es allerdings meisterhaft, die Balance zu wahren und die Beliebigkeit so weit im Zaum zu halten, dass man das Interesse nicht verliert.
Trotzdem fragt man sich nach einiger Zeit, was bei dem ganzen Hin und Her die Menschen in dieser leeren Welt eigentlich motiviert.
Man könnte es das James-Bond-Bösewicht-Paradoxon nennen. Man erinnere sich an die frühen Abenteuer des Geheimagenten, wo superreiche Megaschurken von als Vulkan getarnten Verstecken aus die Welt vernichten wollten. Am Ende ist Bond dann immer im riesigen Hauptquartier des Bösen, wo hunderte Menschen geschäftig den Start der Atomrakete vorbereiten, die London vernichten soll.
Eine selten gestellte Frage liegt dabei auf der Hand: Warum arbeiten die ganzen Leute für den Bösewicht? Diese ganzen Techniker, Physiker, Architekten usf. müssen ja einen Grund haben, lebenslange Haft (mindestens) zu riskieren. Sicherlich, sie werden bestimmt gut bezahlt, aber so gut? Und was ist mit denen, die dort in der Kantine arbeiten oder die Klos putzen? Alle diese Leute müssten theoretisch absolut vertrauenswürdig und treu sein, bereit für den Bösewicht zu sterben. Gleichzeitig haben sie dafür überhaupt keinen Grund, wenn ihre Motivation nur das Geld ist oder sie gewungen werden, dort zu arbeiten.
Analog dazu wird bei Game of Thrones einfach vorausgesetzt, dass Soldaten und Gefolgsleute ihrem König treu sind, seine Rechtmäßigkeit nie in Frage stellen und ungefragt für ihn sterben. Wenn es aber keine höheren Werte gibt, keine Götter, die Macht hätten (was ständig betont wird), dann bedeuten ja auch Eide und Treueschwüre nichts. Dann ist auch die Frage, wer der rechtmäßige König ist, falsch gestellt, weil die Rechtmäßigkeit sich ja von nichts ableiten lässt.
Natürlich braucht aber die Geschichte selbstlose Treue und Vertrauen, um zu funktionieren. Das lässt sich wieder am Prisoner’s Dilemma verdeutlichen. Es mag logisch sein, dass A seinen Kumpanen verpfeift, aber eben nur in einem völlig abstrakten Kontext. Wenn A und sein Kumpan sich gegenseitig vertrauen oder beide das gleiche Ziel verfolgen, dann wäre der Verrat unlogisch.
Wenn A seinen Kumpan dann trotzdem ans Messer liefern würde, dann wohl aus ganz anderen Gründen, etwa weil er sich denkt, dass das die perfekte Gelegenheit ist, ihn hinter Gitter zu bringen und dann seine Frau zu vögeln.
Der Verrat ist dann am süßesten, wenn das Vertrauen und die gemeinsamen Ziele und Werte, die betrogen werden, am größten sind. Für den Verrat braucht man echtes Vertrauen und wahre Treue. Wenn jeder jeden zu jeder Zeit ständig hintergeht, ohne Moral, ohne Gott, ohne Liebe, dann ist auch der Verrat stumpf und oberflächlich – ergo wenig unterhaltsam.
Game of Thrones trifft offensichtlich den Nerv der Zeit. Das derzeitige Lebensgefühl „Moral muss überwunden werden, wenn man überleben will“ dürfte schon bei der Quasi-Vorgänger-Hitserie Breaking Bad ein Grund für den Erfolg gewesen sein.
Martins Jeder-gegen-jeden-Epos geht aber einen Schritt weiter, hier schlagen sich die wenigsten wie Heisenberg mit inneren Konflikten herum. Shakespeare’s Antihelden Macbeth, Othello und Hamlet wären verglichen mit dem Durchschnitts-Throne-Gamer wahre Waisenknaben.
Fazit: Game of Thrones bringt den Zeitgeist auf den Punkt und zeigt eine Welt, in der um alles gekämpft wird, in der es aber nichts mehr gibt, worum es sich zu kämpfen lohnt.