Das Jahr ist 1984. Auf einer Tokioer Autobahn herrscht Stau, eine junge Frau sitzt in einem Taxi auf dem Weg zu einem wichtigen Termin, den sie wohl verpassen wird. Da rät ihr der Taxifahrer über eine Nottreppe die Autobahn zu verlassen und es mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu versuchen. Die Treppe führt allerdings nicht nur von der Autobahn herunter, sondern ist auch das Tor zu 1Q84, einer Parallelwelt, die sich vom realen 1984 in Nuancen unterscheidet. So beginnt Murakamis Trilogie.
Die Handlung folgt zunächst getrennt der jungen Frau, Aomame, die an der Vorbereitung eines Attentats auf den Anführer einer Sekte beteiligt ist, und einem Schriftsteller, Tengo, der, in betrügerischer Absicht, den Roman einer jungen Debütantin umschreibt, damit dieser einen Nachwuchspreis erhält. Nach und nach wird klar, dass sich die beiden aus ihrer Schulzeit kennen und seitdem hoffen, sich wiederzubegegnen.
1Q84 hat zwar drei getrennte Teile, ist aber eigentlich nur ein schwergewichtiger Roman von insgesamt über 1500 Seiten, der wohl die Geduld der meisten Leser, insbesondere gegen Ende, auf die Probe stellen dürfte. Murakami lässt sich Zeit, den Fortgang der Geschehnisse zu beschreiben, die Handlung schiebt sich eher spiralförmig in Richtung Ende, als dass sie voranschreitet. Man erfährt sehr viel über die Protagonisten, ihre Vergangenheit und über ihre Wünsche und Sehnsüchte. Aber gerade die Charaktere bleiben trotz der vielen Details zweidimensional. Die meisten Nebenfiguren sind so flach und durchschaubar wie eine Glasscheibe. Aomames Leben ist eine Mischung aus Altherrensexfantasie und Erotik-Krimi, ihre unsterbliche Liebe für jemanden, dem sie mit 10 Jahren die Hand gegeben hat und sonst nichts, ist nicht ganz leicht nachvollziehbar. Auch die Motive für das Attentat an dem Sektenführer sind wenig in der Realität verankert, den schließlich wird er ja wohl nach seinem Tod durch einen Nachfolger ersetzt werden, der genauso weitermachen wird. Tengos Geschichte hat Momente von Wahrhaftigkeit, versinkt aber schließlich auch in Klischees, wie etwa der Alzheimer kranke Vater, der kryptische Wahrheiten stammelt.
Die Figuren sind allesamt mehr literarisches Konstrukt als reale Person, was für einen phantastischen Roman wahrscheinlich okay wäre, aber die Parallelwelt 1Q84 spielt eigentlich eine untergeordnete Rolle und scheint mehr ein Symbol für die Zusammengehörigkeit der beiden Liebenden zu sein. Die anderen phantastischen Elemente gehen mehr in Richtung Esoterik und werden entsprechend detailreich erläutert, allerdings ohne wirklich interessant zu sein. Die Anfertigung einer Puppe (d. h. eines Kokons) aus Luft ist eine ganz nette Idee, für die hätte aber eine Kurzgeschichte gereicht. Was bleibt ist jede Menge Pseudotiefsinn, der problematisch wird, wenn er in eine Art mythische Überhöhung von Kindesmissbrauch mündet.
Das Werk erhielt überwiegend positive bis frenetische Kritiken, was für mich nicht ganz begreiflich ist, denn selbst wenn man die Geschichte und die Erzählweise mag, sind die Schwächen einfach viel zu augenscheinlich. Mittelmäßig.
Haruki Murakami: „1Q84“, btb Verlag.